Andreas Zielcke hat am 12.10.2017 in der SZ (Feuilleton, S. 11) einen Beitrag geschrieben mit dem Titel »Der unflexible Mensch« und der erläuternden Unterzeile »Nicht jeder hält die Widersprüche aus, die dem Ich heute abverlangt werden. Der Erfolg der Rechten zeugt von überforderter Identität«. Online war es schon am 11.12. erschienen unter dem Titel Die verunsicherte Gesellschaft
Ich denke, dass es lohnt, an diesen Beitrag anzuknüpfen und die Debatte weiter zu treiben. Ich mache daher hier einen Anfang.
Das unausgegorene Wir. Plädoyer für verfügbare objektive Anerkennung
Andreas Zielcke hat (in der SZ v. 12.10.2017) den unflexiblen Menschen porträtiert. Ausgangspunkt und leitendes Problem ist die Frage, was man den Formen »verplombter Identität« auf Seiten der AfD und der identitären Rechten entgegenhalten könne. Die Frage, was hier zu tun ist, lässt Zielcke am Ende offen, und ich gestehe, dass auch ich keine Antwort auf die Frage Was tun? anbieten kann. Stattdessen will ich den Ball aufnehmen und weiter im Spiel halten, was wir wie denken können müssten, um besserenfalls immerhin einen Wegweiser für solches Tun zu haben.
Zielcke geht zunächst einen Schritt zurück. Auf das Problem der Identität haben die Rechten kein Monopol, sondern die »Bürger aller politischen Lager« teilen dieses Problem. Es macht als Problemstellung moderne Gesellschaften aus, und es ist, so Zielcke zu Recht, ein letztlich unauflösbares Problem. Es müsse um Wege gehen, die eigene Identität zu stabilisieren. Von dieser Diagnose führt »eine direkte Spur« zu einer Nebenbemerkung von Karl Marx, dass Widersprüche nicht gelöst im Sinne von aufgelöst werden können, sondern nur die Form ändern, in der sie sich bewegen. Fraglich ist deshalb die »Wirform des eigenen Ich« (Helmuth Plessner).
Zielcke charakterisiert die beiden Modelle, in denen sich die Suche nach Identität vorherrschend bewegt. Im einen, dem demokratisch-kapitalistischen Modell, stiften sich die Bürger wechselseitig als Subjekte ihres sozialen Handelns an. Es ist das Modell fluider, verfügbarer subjektiver Anerkennung. Gefragt ist hier Arbeit am eigenen Ich und am gemeinsamen Wir, bei dem alles darauf ankommt, »sich gegen alle zu stellen und mit allen am selben Strick zu ziehen«. Das zweite Modell, die national-historische Alternative, geht den Weg der Identitätsstabilisierung über die Verehrung eines äußeren Objekts, etwa Herkunft, Nation, Volk, Tradition. Das Versprechen ist ein fester Untergrund der Identitätsbildung. »Über ethnische Herkunft lässt sich nicht verfügen. Das ist mit ›identitär‹ gemeint.«
Der Furor der Rechten gründet dann darin, dass identitäre Identität auf einem positiven unverrückbaren Wir gebaut sein will, aber wesentlich nur negativ erfahren wird. In modernen Gesellschaften verweigert die offene Identität allüberall der geschlossenen Identität den Charakter des Unverfügbaren. Offene Identität ist Arbeit, nicht aber Unterwerfung. ›Dein Volk ist alles!‹ hatten wir schon einmal, und alle sog. Sorgen, dass Grundsätze solcher Bauart bedroht sein könnten, gehören nicht durch Diskussionen in aller Öffentlichkeit anerkannt.
Worauf Zielcke freilich durch Rekurs auf Sennets Flexiblen Menschen und auf Bröcklings Unternehmerisches Selbst anspielt, ist der Umstand, dass die Folgekosten der offenen Identität wahrlich auch nicht lustig sind. Sie laden kaum zu offener positiver Identifizierung ein. Wer nicht genügend Potenz zur allfälligen Arbeit am Selbst hat – »oft genügen dafür schon Benachteiligungen durch das Stadt-Land-Gefälle« –, für den erweist sich das Modell verfügbarer subjektiver Anerkennung als das, was es ist: als Verschleierung des wirkmächtigen Mechanismus, dass nur die Harten in den Garten kommen, und alle anderen draußen bleiben müssen.
Die Wirform der geschlossenen Identität will auf objektivem unverrückbarem Grund gebaut sein, der in modernen Gesellschaften nicht mehr zur Verfügung steht und nicht mehr zur Verfügung stehen soll. Die Wirform der offenen Identität ist auf den prekären doppelten Boden subjektiver Anerkennung gestellt, der notorisch das Netz eines solidarischen Wir zerpflückt. Die Arbeit des Anerkennung-machens bindet die Gelassenheit des Anerkanntseins, und in der Folge dann durchaus auch die schnöde Ignoranz gegenüber den Draußengebliebenen, an zu erbringende Leistungen, wodurch ein Eliteclub entsteht: Die, die die angesagten Leistungen erbringen, definieren auch noch, was an Leistungen zu erbringen ist, um dazu zu gehören.
Die Wirform der offenen Identität kennt zwei Weisen, in denen sie sich realisiert, die liberalistische und die kommunitaristische. Die liberalistische Weise ist die offensive Abschaffung eines jeden Wir, das über das Wir der Harten hinausgeht. Dort gibt es nicht so ein Etwas wie society (M. Thatcher), und aus der versprochenen Geschwisterlichkeit wird ein Haufen gelackter Egos. Die kommunitaristische Wirform ist demgegenüber eine Gesinnungsgemeinschaft. In den Genuss der »Gleichfreiheit« (Balibar) kommen nur diejenigen, die die Aufnahmeprüfung der richtigen Moral bestehen. Brüderlichkeit hieß schon zu Zeiten der Französischen Revolution: ›Willst Du nicht mein Bruder sein, schlag ich Dir den Schädel ein‹. Das ist selbstredend mit jedem liberalen Grundsatz unvereinbar, denn die Gemeinsamkeit des Rechts sollte auch noch so skurrile Privatmoral schützen.
Die Suche nach einer dritten Weise der Wirform der offenen Identität ist auf ganz wenige Spuren angewiesen, die zudem in aller Regel unkenntlich gemacht wurden. Eine dieser Spuren hat Rousseau gelegt, der noch zwischen Gemeinwillen und Gesamtwillen zu unterscheiden wusste. Der Rousseauismus hat dann leider den Abzweig in den kommunitaristischen Abgrund genommen. Die mit Tönnies populär gewordene Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft konnte, trotz Plessner, nie recht vom Stallgeruch der Unterscheidung ›kalte Gesellschaft – warme Gemeinschaft‹ befreit werden. Kann oder muss man das vielleicht noch einmal aufwärmen, um zu dem Konzept eines Gesellschafts-Wir zwischen einem liberalistischen Haufen und einem kommunitaristischen Gemeinschafts-Wir wenigstens in der Theorie zu kommen? Die Latte hängt recht hoch, denn es müsste das Modell verfügbarer objektiver Anerkennung sein. Aber es spricht ja auch wenig dafür, dass die gelingende Bewegungsform eines Widerspruchs eine theoretische Lappalie ist.
Welches Wir hat das nunmehr eher verrufene »Wir schaffen das!« berufen? Mittlerweile ist es zu einer Art Abzählreim verraten worden: Wie viele schaffen wir? Merkel hat nie wieder, und andere erst recht nicht, auf ihrer Version beharrt. In der ursprünglichen Version war jene Parole kontrapunktiert durch den Satz: »In einem solchen Land will ich nicht leben, in dem ernsthaft in Frage steht …!« Diese Einbettung war in der Folge nie sinnstiftend für den Satz, dass wir da irgendetwas schaffen. Im Gegenteil. Seitdem spielt Merkel unter dem andächtigen Schweigen und gelegentlichem Räuspern des Publikums mit Seehofer eine Art des Kinderspiels ›Reise nach Jerusalem‹, mit der zentralen Frage, wie viele Stühle in der Mitte stehen dürfen.
Hätte Merkel oder irgendwer sonst auf jenem kontrapunktischen Gegensatz beharrt, dann wäre sonnenklar gewesen, was der Sinn jenes »Wir schaffen das!« hätte sein können: Selbst noch Kinderspiele können wir heutzutage nur noch ernsthaft spielen, wenn wir sie im Rahmen der Geltung von Verfassung und Völkerrecht spielen und wir können stolz auf diesen Rahmen sein, der verhindert, das aus einer Reise um begehrte Plätze ein Rattenrennen wird. Dort blitzt ein Gesellschafts-Wir auf: Wir haben uns eine Verfassung gegeben, in der sich alle Egos und alle Gemeinschaften halbwegs verlässlich bewegen können – und wir sollten deshalb stolz auf uns sein!
Wäre das »Verfassungspatriotismus« (Sternberger, Habermas), dann wäre damit eine »objektive Wertgröße« (Zielcke) gewonnen, die es nur in subjektiver Zustimmung von uns allen zu uns gibt. Die kategorische Geltung von Verfassung und Völkerrecht gehört nicht in die Masse des Verhandelbaren, kann aber gleichwohl geändert werden, wenn Anträge auf Änderung Zustimmung finden. In der Festtheorie von Josef Pieper (»Zustimmung zur Welt«) wetterleuchtet ein solcher Fall objektiven Anerkennens durch ein ganzes Buch. Pieper hadert noch, ob solch republikanisches Wir über Uns nicht doch an den seidenen Faden gehängt werden muss, dass Gott die Welt gut eingerichtet hat, aber wichtiger ist alles diesseits dessen. Hätte sich Merkel solcherart Einsichten à la Pieper zu eigen gemacht und wäre sie ihrer ursprünglichen Version treu geblieben, hätte sie mit Aussicht auf Zustimmung Seehofer weitaus nachhaltiger mit der Kälte ihres Lächelns ins verdiente Abseits stellen können.
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