Hinweis 2020_1

Es gibt großartige Autor*innen. Dietmar Dath gehört dazu.

Hier eine kleine Kostprobe:

»In der Konfrontation mit dem, was ich bei Hegel falsch finde oder nicht verstehe, lerne ich erst, wo er gegen meine Vorurteile Recht hat oder wo mein Verständnis Unzulänglichkeiten abbauen muss (was man sofort versteht, ist immer nur, was man schon wusste).«

Hoffentlich versteht man diesen Satz nicht sofort, denn sonst hätte man es ja schon gewusst und wäre hier bloß gelangweilt worden. Beim 1. Lesen ist der Satz großartig. Beim wiederholten Lesen ist er glasklar und, mit Verlaub, einfach nur richtig.

Er stammt aus dem Bändchen Hegel. 100 Seiten. Ditzingen: reclam 2020, dort S. 7. Veröffentlicht übrigens In Memoriam Hermann L. Gremliza (1940-2019) und Hans Heinz Holz (1927-2011) – auch, mit Verlaub, zwei großartige Autoren.

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Hinweis: Neuer Blog

Es ist soeben ein neuer Philosophie-Blog online gegangen unter dem Namen »praefaktisch«. Er beginnt u.a. mit einer Rubrik zu ›200 Jahre Marx‹. Es gibt dort einen eigenen Beitrag zum Verhältnis von Marxismus und Philosophie.

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Antwort 2018

Seit dem Krefelder Appell habe ich so etwas nicht mehr unterschrieben. Jetzt wird es wieder nötig, denn Lengsfeld, Tellkamp, Sarrazin und Konsorten brauchen eine Antwort.
Die Antwort besteht auch nur aus zwei Sätzen und lautet:
„Die Menschenrechte enden an keiner Grenze dieser Welt.
Wir solidarisieren uns mit allen Menschen,
die vor Krieg, Verfolgung und Armut in unserem Land Zuflucht suchen,
und wenden uns gegen jede Ausgrenzung.“
Unterschreiben kann man hier
Nähere Erläuterungen und Begründungen zum Beispiel
hier
oder auch hier

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Weiterdenken mit Carolin Emcke

In einem Gastkommentar in der SZ (vom 17./18.3.2018) schrieb Carolin Emcke: »Ich glaube nicht an die Parallelität von Werk und Person« – ja, aber: Notwendig ist ein Prüfauftrag.

Es ist ein Gastkommentar (»Vorbei«) aus Anlass der Entlassung von James Levine als Dirigent und musikalischem Direktor der Metropolitan Opera in New York. Im ersten Teil nimmt Carolin Emcke unmissverständlich Stellung, und die SZ hat es genauso unmissverständlich zusammengefasst: »James Levine missbrauchte junge Menschen sexuell und unterwarf sie seiner Herrschaft. Das ist ekelhaft.« Und nun zum Glück vorbei. Dem ist nichts hinzuzufügen – außer der brutalen Notwendigkeit, diesen ersten Teil des Kommentars von Emcke immer wieder einmal lesen zu müssen, weil man sonst dazu neigen könnte, es nicht für möglich zu halten, was da passiert ist.
In einem Übergangsteil stellt Carolin Emcke dann die ätzende Nachfrage: »Und das will niemand bemerkt haben?« Und sie gibt selbst die gute Antwort: »Gerüchte bleiben Gerüchte, wenn niemand ihnen nachgeht.«
Im letzten Teil fragt sie dann sich und uns, ob wir nun aufhören müssen, Levines Musik zu hören und ob wir seine CDs nun aus dem Regal räumen müssen. Sie antwortet darauf mit der zitierten Nicht-Parallelität von Werk und Person. – So schwer es im Einzelfall auch sein mag: Ich denke, dass man diesem Glauben beitreten muss. Ja mehr noch: Es gibt zahllose Zusammenhänge, in denen man aktiv für diesen Glauben eintreten muss (ok, »Niemand muss müssen«, Lessing). Ich wechsel aus Kompetenzgründen das Fach und die Beispiele: Dürfen wir Heidegger nicht mehr lesen? Dürfen wir Carl Schmitt nicht mehr lesen? Es gibt Zusammenhänge, in denen man gleichsam zur persona non grata wird, wenn man solche Autoren weiterhin liest. Es sind solche Zusammenhänge, in denen man offensiv für jenen Glauben streiten muss: Es gibt keine Parallelität von Werk und Person, jedenfalls keine »automatische«, wie Emcke im nächsten Halbsatz hinzufügt.
Es ist eben dieser Zusatz, der essentiell ist für jenen Glauben. Er gehört in den zitierten Glaubenssatz mit hinein, und nicht als Zusatz erst in den nächsten Halbsatz.
Es gibt Zusammenhänge, in denen offensiv und aktiv die »Unschuld« der Texte von Heidegger und Schmitt propagiert wird, weil(!) es schließlich keine Parallelität von Werk und Person gebe. Das ist genauso fatal wie es fatal ist, diese Texte in den Giftschrank zu stellen. Aus dem, was Emcke »ethisches Vergehen« nennt (Nebenschauplatz: Sexueller Missbrauch, offene Unterstützung des Nationalsozialismus als Bruch mit einer »Ethik«??), folgt keine »Sippenhaft des Werks«, das ist wohl wahr. Aber genauso wenig folgt eine automatische Unschuld – hier wird das Bild der Parallelität schief.
Ob und was das in Bezug auf die Musik von Levine heißt, kann ich nicht beurteilen. Mathematik und Musik sind sozusagen die harten Fälle: Kann man die Praxis ekelhaften Entwürdigens einer Person in dessen Musik tatsächlich hören? Bei Text-Werken jedenfalls ist das der alles entscheidende Auftrag. Krockow hat es vor langer Zeit schon vorgeführt: Das existentialistische Theorem des reinen Dass der Entscheidung ist das Entsprechungsstück in den Texten von Heidegger und Schmitt zu deren offenen Unterstützungen von Nationalsozialismus, Führerkult und elitärer Abwertung einer vermeintlichen Uneigentlichkeit des Man.
Debattenbeiträge im Sinne von Krockow sind leider viel zu selten, und noch viel seltener von Wirkung im Streit um das Verhältnis von Person und Werk. Carolin Emcke schließt ihren Beitrag mit offen bekundetem Unbehagen, das sie nunmehr als basso continuo beim Hören der Musik von Levine begleiten wird. Hier weiterzudenken heißt, diesen basso continuo aus einem privaten Unbehagen herauszuholen und zu einer Werkanalyse zu verdichten – glaube ich.

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Weiterdenken mit Andreas Zielcke

Andreas Zielcke hat am 12.10.2017 in der SZ (Feuilleton, S. 11) einen Beitrag geschrieben mit dem Titel »Der unflexible Mensch« und der erläuternden Unterzeile »Nicht jeder hält die Widersprüche aus, die dem Ich heute abverlangt werden. Der Erfolg der Rechten zeugt von überforderter Identität«. Online war es schon am 11.12. erschienen unter dem Titel Die verunsicherte Gesellschaft
Ich denke, dass es lohnt, an diesen Beitrag anzuknüpfen und die Debatte weiter zu treiben. Ich mache daher hier einen Anfang.

Das unausgegorene Wir. Plädoyer für verfügbare objektive Anerkennung
Andreas Zielcke hat (in der SZ v. 12.10.2017) den unflexiblen Menschen porträtiert. Ausgangspunkt und leitendes Problem ist die Frage, was man den Formen »verplombter Identität« auf Seiten der AfD und der identitären Rechten entgegenhalten könne. Die Frage, was hier zu tun ist, lässt Zielcke am Ende offen, und ich gestehe, dass auch ich keine Antwort auf die Frage Was tun? anbieten kann. Stattdessen will ich den Ball aufnehmen und weiter im Spiel halten, was wir wie denken können müssten, um besserenfalls immerhin einen Wegweiser für solches Tun zu haben.
Zielcke geht zunächst einen Schritt zurück. Auf das Problem der Identität haben die Rechten kein Monopol, sondern die »Bürger aller politischen Lager« teilen dieses Problem. Es macht als Problemstellung moderne Gesellschaften aus, und es ist, so Zielcke zu Recht, ein letztlich unauflösbares Problem. Es müsse um Wege gehen, die eigene Identität zu stabilisieren. Von dieser Diagnose führt »eine direkte Spur« zu einer Nebenbemerkung von Karl Marx, dass Widersprüche nicht gelöst im Sinne von aufgelöst werden können, sondern nur die Form ändern, in der sie sich bewegen. Fraglich ist deshalb die »Wirform des eigenen Ich« (Helmuth Plessner).
Zielcke charakterisiert die beiden Modelle, in denen sich die Suche nach Identität vorherrschend bewegt. Im einen, dem demokratisch-kapitalistischen Modell, stiften sich die Bürger wechselseitig als Subjekte ihres sozialen Handelns an. Es ist das Modell fluider, verfügbarer subjektiver Anerkennung. Gefragt ist hier Arbeit am eigenen Ich und am gemeinsamen Wir, bei dem alles darauf ankommt, »sich gegen alle zu stellen und mit allen am selben Strick zu ziehen«. Das zweite Modell, die national-historische Alternative, geht den Weg der Identitätsstabilisierung über die Verehrung eines äußeren Objekts, etwa Herkunft, Nation, Volk, Tradition. Das Versprechen ist ein fester Untergrund der Identitätsbildung. »Über ethnische Herkunft lässt sich nicht verfügen. Das ist mit ›identitär‹ gemeint.«
Der Furor der Rechten gründet dann darin, dass identitäre Identität auf einem positiven unverrückbaren Wir gebaut sein will, aber wesentlich nur negativ erfahren wird. In modernen Gesellschaften verweigert die offene Identität allüberall der geschlossenen Identität den Charakter des Unverfügbaren. Offene Identität ist Arbeit, nicht aber Unterwerfung. ›Dein Volk ist alles!‹ hatten wir schon einmal, und alle sog. Sorgen, dass Grundsätze solcher Bauart bedroht sein könnten, gehören nicht durch Diskussionen in aller Öffentlichkeit anerkannt.
Worauf Zielcke freilich durch Rekurs auf Sennets Flexiblen Menschen und auf Bröcklings Unternehmerisches Selbst anspielt, ist der Umstand, dass die Folgekosten der offenen Identität wahrlich auch nicht lustig sind. Sie laden kaum zu offener positiver Identifizierung ein. Wer nicht genügend Potenz zur allfälligen Arbeit am Selbst hat – »oft genügen dafür schon Benachteiligungen durch das Stadt-Land-Gefälle« –, für den erweist sich das Modell verfügbarer subjektiver Anerkennung als das, was es ist: als Verschleierung des wirkmächtigen Mechanismus, dass nur die Harten in den Garten kommen, und alle anderen draußen bleiben müssen.
Die Wirform der geschlossenen Identität will auf objektivem unverrückbarem Grund gebaut sein, der in modernen Gesellschaften nicht mehr zur Verfügung steht und nicht mehr zur Verfügung stehen soll. Die Wirform der offenen Identität ist auf den prekären doppelten Boden subjektiver Anerkennung gestellt, der notorisch das Netz eines solidarischen Wir zerpflückt. Die Arbeit des Anerkennung-machens bindet die Gelassenheit des Anerkanntseins, und in der Folge dann durchaus auch die schnöde Ignoranz gegenüber den Draußengebliebenen, an zu erbringende Leistungen, wodurch ein Eliteclub entsteht: Die, die die angesagten Leistungen erbringen, definieren auch noch, was an Leistungen zu erbringen ist, um dazu zu gehören.
Die Wirform der offenen Identität kennt zwei Weisen, in denen sie sich realisiert, die liberalistische und die kommunitaristische. Die liberalistische Weise ist die offensive Abschaffung eines jeden Wir, das über das Wir der Harten hinausgeht. Dort gibt es nicht so ein Etwas wie society (M. Thatcher), und aus der versprochenen Geschwisterlichkeit wird ein Haufen gelackter Egos. Die kommunitaristische Wirform ist demgegenüber eine Gesinnungsgemeinschaft. In den Genuss der »Gleichfreiheit« (Balibar) kommen nur diejenigen, die die Aufnahmeprüfung der richtigen Moral bestehen. Brüderlichkeit hieß schon zu Zeiten der Französischen Revolution: ›Willst Du nicht mein Bruder sein, schlag ich Dir den Schädel ein‹. Das ist selbstredend mit jedem liberalen Grundsatz unvereinbar, denn die Gemeinsamkeit des Rechts sollte auch noch so skurrile Privatmoral schützen.
Die Suche nach einer dritten Weise der Wirform der offenen Identität ist auf ganz wenige Spuren angewiesen, die zudem in aller Regel unkenntlich gemacht wurden. Eine dieser Spuren hat Rousseau gelegt, der noch zwischen Gemeinwillen und Gesamtwillen zu unterscheiden wusste. Der Rousseauismus hat dann leider den Abzweig in den kommunitaristischen Abgrund genommen. Die mit Tönnies populär gewordene Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft konnte, trotz Plessner, nie recht vom Stallgeruch der Unterscheidung ›kalte Gesellschaft – warme Gemeinschaft‹ befreit werden. Kann oder muss man das vielleicht noch einmal aufwärmen, um zu dem Konzept eines Gesellschafts-Wir zwischen einem liberalistischen Haufen und einem kommunitaristischen Gemeinschafts-Wir wenigstens in der Theorie zu kommen? Die Latte hängt recht hoch, denn es müsste das Modell verfügbarer objektiver Anerkennung sein. Aber es spricht ja auch wenig dafür, dass die gelingende Bewegungsform eines Widerspruchs eine theoretische Lappalie ist.
Welches Wir hat das nunmehr eher verrufene »Wir schaffen das!« berufen? Mittlerweile ist es zu einer Art Abzählreim verraten worden: Wie viele schaffen wir? Merkel hat nie wieder, und andere erst recht nicht, auf ihrer Version beharrt. In der ursprünglichen Version war jene Parole kontrapunktiert durch den Satz: »In einem solchen Land will ich nicht leben, in dem ernsthaft in Frage steht …!« Diese Einbettung war in der Folge nie sinnstiftend für den Satz, dass wir da irgendetwas schaffen. Im Gegenteil. Seitdem spielt Merkel unter dem andächtigen Schweigen und gelegentlichem Räuspern des Publikums mit Seehofer eine Art des Kinderspiels ›Reise nach Jerusalem‹, mit der zentralen Frage, wie viele Stühle in der Mitte stehen dürfen.
Hätte Merkel oder irgendwer sonst auf jenem kontrapunktischen Gegensatz beharrt, dann wäre sonnenklar gewesen, was der Sinn jenes »Wir schaffen das!« hätte sein können: Selbst noch Kinderspiele können wir heutzutage nur noch ernsthaft spielen, wenn wir sie im Rahmen der Geltung von Verfassung und Völkerrecht spielen und wir können stolz auf diesen Rahmen sein, der verhindert, das aus einer Reise um begehrte Plätze ein Rattenrennen wird. Dort blitzt ein Gesellschafts-Wir auf: Wir haben uns eine Verfassung gegeben, in der sich alle Egos und alle Gemeinschaften halbwegs verlässlich bewegen können – und wir sollten deshalb stolz auf uns sein!
Wäre das »Verfassungspatriotismus« (Sternberger, Habermas), dann wäre damit eine »objektive Wertgröße« (Zielcke) gewonnen, die es nur in subjektiver Zustimmung von uns allen zu uns gibt. Die kategorische Geltung von Verfassung und Völkerrecht gehört nicht in die Masse des Verhandelbaren, kann aber gleichwohl geändert werden, wenn Anträge auf Änderung Zustimmung finden. In der Festtheorie von Josef Pieper (»Zustimmung zur Welt«) wetterleuchtet ein solcher Fall objektiven Anerkennens durch ein ganzes Buch. Pieper hadert noch, ob solch republikanisches Wir über Uns nicht doch an den seidenen Faden gehängt werden muss, dass Gott die Welt gut eingerichtet hat, aber wichtiger ist alles diesseits dessen. Hätte sich Merkel solcherart Einsichten à la Pieper zu eigen gemacht und wäre sie ihrer ursprünglichen Version treu geblieben, hätte sie mit Aussicht auf Zustimmung Seehofer weitaus nachhaltiger mit der Kälte ihres Lächelns ins verdiente Abseits stellen können.

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Eigenes 2017_1

Vom 24.-27. September 2017 fand an der Humboldt-Universität zu Berlin der XXIV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie unter dem Titel ›Norm und Natur‹ statt. Unter anderem fand ein Kolloquium zum Thema ›Körper, Leiblichkeit und Normativität‹ statt, das Thomas Bedorf (Hagen) organisiert hat. Auf seine Einladung hin gab es drei Kurzvorträge von Christian Grüny (Witten-Herdecke), Petra Gehring (Darmstadt) und von mir mit anschließender gemeinsamer Diskussion.

Ich dokumentiere hier meinen Vortrag (-›pdf).

Der Vortrag hatte zwei Teile. Zunächst habe ich sieben Argumentationsschritte angegeben zum Zusammenhang von Körper-Leiblichkeit und Normativität. Ich habe zusammengefasst, was ich zuletzt andernorts ausführlicher und in unterschiedlicher Perspektive herausgestellt hatte – dass es eine dritte Größe braucht, nämlich Personalität, um das Verhältnis der Körper-Leib-Differenz zur Normativität zu bestimmen, und dass man dann sagen kann und muss, dass bei Strafe von Kontingenzexorzismus Personalität nicht(!) durch die Körper-Leib-Differenz konstituiert ist, dass man aber aus normativen Gründen die These verteidigen kann (und sollte), dass Personalität an die Körper-Leib-Differenz „gebunden“ ist. Gebunden zu sein ist logisch weniger als konstituiert zu sein, aber logisch mehr, als bloß willkürlich zugeschrieben zu sein. In diesem Sinne der Gebundenheit gibt es dann nur leibhaftige Personen.
Im zweiten Teil gab es eine kurze vierschrittige Reflexion darauf, warum ausgerechnet Personalität resp. der gesellschaftliche Status der Würdigen jenes dritte Moment der Vermittlung von Körper-Leiblichkeit und Normativität sein sollte. Es ist eine Hommage an die Errungenschaft der Bürgerlichen Revolutionen, die am Tag nach dem Wahlerfolg der AfD eine bittere Note von Aktualität hatte.

Als Kurzversion hier die beiden orientierenden Thesen und die vier Schritte des zweiten Teils des Vortrags:
These 1: Um die Frage des Zusammenhangs der Körper-Leib-Differenz und Normativität zu klären, ist ein Drittes notwendig: Personalität. Was und wer als Person gilt, ist ohne normativen Wetteinsatz nicht zu bestimmen. Dass Personen leibhaftig, also an die Körper-Leib-Differenz gebunden sind, ist nicht selbstverständlich, aber aus normativen Gründen zu verteidigen.
These 2: Dass dieses notwendige Dritte gerade Personalität ist, ist Ausdruck dessen, dass jede aktuelle Zeitdiagnose zur Leibeskultur (Biomacht, Körpertechnologisierung, Selbstsorge etc.) notwendig durch eine (umstrittene) Grundannahme formatiert ist, was den Grundcharakter moderner Gesellschaften ausmacht. Der Verweis auf Personalität ist die Aufforderung, diese Grundannahme explizit und damit diskutierbar zu machen.

Teil II: Reflexion

Warum Personalität? Warum Würde? Verortung in der Moderne
1. Die Bürgerlichen Revolutionen waren politische Revolutionen, d.h. Revolutionen der Ordnung der Polis, der Gesellschaft. Bürgerliche Revolutionen haben umgestellt vom Recht des Stärkeren auf Rechtsstaatlichkeit: auf den Schutz der Gleichheit der Rechte Aller im Medium der Staatsbürgerschaftlichkeit – des sich wechselseitigen Anerkennens als Person gleicher Rechte.
2. Wie uns Anarchisten und Kommunisten gelehrt haben, waren es bloß politische Revolutionen, die nicht nur nichts daran geändert haben, weiter eine Herrschaftsform zu sein (sei es des Staates, so die Anarchisten; sei es einer Klasse, so die Kommunisten), sondern zudem diese Herrschaftsform durch die Umstellung auf Vermitteltheit zusätzlich verschleiert haben. Ich erinnere daran, worin Marx und Stirner einig waren:
»Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigenthum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigenthums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbfreiheit.« (Marx 1844, MEW 1: 369)
»Politische Freiheit sagt dies, dass die Polis, der Staat, frei ist, Religionsfreiheit dies, dass die Religion frei ist, wie Gewissensfreiheit dies bedeutet, dass das Gewissen frei ist; also nicht, dass Ich vom Staate, von der Religion, vom Gewissen frei, oder dass ich sie los bin.« (Stirner 1844: 115)
3. Wie uns historische Erfahrung gelehrt hat, steht diese Meta-Kritik in der Gefahr, die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution des Politischen klein zu reden und verächtlich zu machen und dadurch zu zermürben, oder als Formel: die Rechtsstaatlichkeit zu »verlachen« (Somek). In beinahe allen Varianten zeichnete sich solche Meta-Kritik durch einen schlechten Begriff von Herrschaft aus, nämlich: deterministische Herrschaft mit dem Paradebeispiel des Ökonomismus; zudem handelt es sich in aller Regel um den spätestens mit Foucault anachronistischen Versuch, Machtfragen auf Herrschaftsfragen zu reduzieren.
4. Wie uns alltägliche Erfahrung lehrt, kann die berechtigte Kritik an jener Meta-Kritik der Bürgerlichen Revolutionen das Kind mit dem Bade ausschütten. Basis-Überbau-Fragen können dann als vermeintlich obsolet gar nicht mehr erst formuliert, geschweige beantwortet werden. Aber der Marxsche Stachel bleibt: Die Analyse von »(Bio-)Macht« verbleibt in der Sphäre der Zirkulation und kratzt als bloße Deskription erst gar nicht an der Sphäre der Produktion.

Marx, Karl (1844): Zur Judenfrage. In: K. Marx; F. Engels (MEW): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz, Bd. 1 (1983), 347-377.
Stirner, Max (1844): Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe. Hg. v. Bernd Kast. Freiburg/ München: Alber 2009.

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Hinweis 2017_1

Jens Weinreich würde es einen „Hörbefehl“ nennen. Ich belasse es mal bei dem dringlichen Hinweis:

Wieder dlf, Essay und Diskurs: Heute Metz & Seeßlen über Staatsbürgerschaft;

und neulich schon Raul Zelik über Postkapitalistische Perspektiven

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Hinweis 2016_2

Bevor es im Übermaß der Angebote untergeht: In der Sendereihe Essay und Diskurs des Deutschlandfunks (Sonntags um 9:30 h) läuft zur Zeit eine 6-teilige Serie zum Marxschen Kapital: Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert. Unter der Federführung von Mathias Greffrath sind sechs AutorInnen beteiligt.

Die ersten beiden Sendungen waren sehr erhellend. Die nächste verspricht eine leichte Schieflage, denn dann ist von „Entfremdung“ statt von „Fetischismus“ die Rede, also einer Kategorie des frühen Marx, die sich gerade nicht bis ins Kapital durchgehalten hat. Aber zuviel darf man natürlich vom staatstragenden Rundfunk nicht erwarten – ist sowieso erstaunlich genug.

Kann man alles nachhören unter dlf: Essay und Diskurs

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Hinweis 2016_1

Ich wollte mich mal wieder zurückmelden. Ist ja schon lange her, dass hier der letzte Eintrag erfolgte. Vermutlich dachten Sie längst, dass dieser Blog tot ist. In gewisser Weise stimmt das sogar. Ich merke einfach, dass ich ihn nicht regelmäßig bedienen und pflegen kann neben all dem Alltagsgeschäft. Das ist nicht schön und gefällt mir selbst nicht. Aber es ist einfach so.

Zugleich aber ist es so, dass es (für mich) nicht geht, diesen Blog einfach einschlafen zu lassen. Als Dokumentation dessen, was ich wissenschaftlich tue, ist es tot, weil es im Alltag eine unpraktikable Verdoppelung ist. Aber mindestens für mich wird es in diesen finsteren Zeiten dringlicher, mich einzumischen – als Bürger, aber auch mit den spezifischen Aspekten und Möglichkeiten, die philosophische und gesellschaftstheoretische Arbeit bietet. Was genau das heißen kann, weiß ich nicht. Das muss sich wohl, hoffentlich in gemeinsamer Suche, erst herausstellen. Ich weiß nur, dass es angesichts der lauthals besorgten Bürger viel zu leise ist, wie mein eigenes Schweigen sinnfällig belegt.

Ein paar Hinweise, was in der letzten Zeit passiert ist:

  • der Abschlussband des Projekts Mediale Moderne ist erschienen; hier die Verlagsankündigung: Bewegungskulturen im Wandel
  • eine Zusammenstellung alter Aufsätze mit neuer Einleitung zu Naturdialektik, Prozess-Ontologie, Tätigkeitstheorie – aber auch mit einem neuen Beitrag zur Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie – ist als Heft 13/2015 der Online-Zeitschrift Tätigkeitstheorie erschienen
  • ein Band von Claus-Artur Scheier, von dem ich mir, bei verschobener Bedeutung, den Namen geliehen habe, zu Luhmann und medialer Moderne ist angekündigt: Luhmanns Schatten
  • Carolin Emcke bekommt – völlig zu Recht, wenn ich das sagen darf – am 23. Oktober 2016 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie hat eine schlicht ergreifende Rede zur Eröffnung der Ruhrtriennale gehalten, dokumentiert vom Deutschlandfunk in der Sendung Kulturfragen vom 14.8.2016 und dort (noch) abrufbar
  • Ulrike Guérot ist am 7.8.2016 im Deutschlandfunk in der Sendung Essay und Diskurs zu ihrem Europa-Buch interviewt worden. Sehr beeindruckend und sehr richtig
  • wir mussten und müssen immer noch diskutieren und mit anhören, was es Unsägliches zu Merkels „Wir schaffen das“ zu sagen gibt. Ich finde, dass man das sehr kurz halten kann. 1. Der Satz kam viel zu spät! Als zahllose Flüchtlinge schon im Mittelmeer ersoffen sind, aber die deutschen Grenzen noch rein waren, wurde Lampedusa auch und nicht zuletzt von Merkel alleine gelassen. Und gegen alle Versuche, gegen Seehofer, Petry, Gabriel & Konsorten jetzt wenigstens Merkel zu wählen, sei an den Umgang mit Griechenland erinnert: Merkel ist nur im Tandem mit Schäuble zu haben (vgl. das Buch von E. Balibar, Europa: Krise und Ende?, Westfälisches Dampfboot 2016). 2. Der eigentlich wichtige Satz, den Merkel gesagt hat und der großen Respekt verdient, der aber seitdem betont durch Nichtthematisierung gestraft wird, war doch: „Es wäre nicht mein Land, es wäre nicht mehr mein Deutschland, wenn wir ernsthaft Hilfe für Flüchtlinge in Frage stellen.“ Merkels „Wir schaffen das“ war Ausdruck einer Selbstverständlichkeit, nicht trostvolles Mutmachen. Die ganze Perfidie von Seehofer etc. liegt darin, Merkels „Wir schaffen das“ zu einer kleinkrämerischen Aufrechnungsübung über zumutbare Obergrenzen verkommen zu lassen
  • wir haben am 20. August 2016 noch einmal um Rio Reiser getrauert. Er hätte gerade heute noch so viel zu sagen. Immerhin haben wir noch all die alten Lieder. Zum Beispiel sang er 1988 in der Seelenbinder-Halle in Ostberlin/DDR: Der Traum ist aus; dort ist u.a. zu hören: „dieses Land ist es nicht“
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Hinweis 2014_2

Ein Hinweis in eigener Sache: Soeben bei Fink neu erschienen ist der aktuelle Stand meiner Auseinandersetzung mit der Philosophie von Helmuth Plessner, ohne die Mediale Moderne nicht denkbar wäre.

Schürmann, V. (2014): Souveränität als Lebensform. Plessners urbane Philosophie der Moderne. München: Fink (beim Verlag)

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